schule für dichtung / vienna poetry school
 
  
roland neuwirth  / vorlesung
u-bahn gstanzln 
 
Unbenanntes Dokument
01. sep 2002

meine sehr geehrten damen & herren!

ich bin beglückt, daß Sie den mut gefaßt haben, bei der gstanzldichterei mitzumachen. hier ein paar hinweise dazu:

interessant wäre, wenn Sie ihren vierzeiler aus der sicht des städters verfassen würden (also nicht das unbedingt übliche "dirndl"-metier, wo einer vom andern abschreibt, wie ich gesehen habe!), und sich wirklich auf die u-bahn konzentrieren würden. besonders reizvoll fände ich es, wenn dort oder da sogar die stationen (z.b. "kettenbrückengasse" etc.) vorkämen. so könnte man eine art "dichterischen fahrplan" erstellen...

zur durchführung:

versuchen sie, sich eine melodie vorzustellen. sie steht traditionellerweise (da es ja ein gstanzl werden soll) im 3/4-takt (daktylus), sehr selten im 2/4 od. 4/4-rhythmus (jambus, trochäus). meine hilfestellungen dazu erfolgen ein paar tage später. zunächst wollen wir einmal sehen, was dabei herauskommt. ich wünsche eine kecke inspiration und verbleibe mit herzlichen grüßen

ihr roland neuwirth

 
20. sep 2002

sehr geehrte damen u. herrn,

viele von ihnen können mit dem einfachen begriff "daktylus" noch immer nichts anfangen.
wenn man eine hebung (betonte silbe) mit einem gedankenstrich ( - ) bezeichnet und eine
senkung mit einem punkt ( . ) und nun die abfolge - . . hinschreibe, erhalte ich also eine betonte und zwei unbetonte silben (um-ta-ta könnte man sagen), also einen dreivierteltakt (1, 2, 3 gleichmäßig zu zählen).

wenn in einer zeile zwei daktylen hintereinander stehen ( - . . / - . . ) spricht man von
zweihebrigen daktylen. es könnte nun davor noch eine unbetonte silbe stehen (ein auftakt). das sähe nun so aus: . / - . . / - . . beispiel: " a / frau geht in / supamoakt..." oder die senkung am schluß könnte entfallen ( . / - . . / - . ), z. b.: " die / schule für / dichtung..." natürlich sind alle denkbaren kombinationen möglich. wie virtuos man nun damit umzugehen weiß, ist eine frage des talents und der routine. die große kunst des dichters ist es also, seine aussagen virtuos (und variierend) in die form zu bringen, d. h. in das gewünschte versmaß (die metrik), die gestalt (z. b. gstanzl, also vierzeiler) und dabei originell zu reimen (herz-schmerz also nicht unbedingt).

ich hoffe, ihnen damit etwas geholfen zu haben und hoffe auf ein sensibleres hören.

herzl. grüße, ihr roland neuwirth