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european kalevala

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kalevala von:
carina nekolny


übern himmel zog marjatta
übern weltenhimmel zeitwärts
zog und flog sie harten leibes
weltenweib/ beerengeschwängert
luftfrau/ sternfrau/ haut und haarfrau
schweren leibes/ leichten sinnes
ging am sternschweif sie und suchte
einen ort/ wo sie gebäre
einen platz für kopf und nachwuchs
fand ihn in der erde norden
nieder stieg das weib vom himmel
golden/ silbern/ tausendprächtig
schenkte in der erde norden
einem kontinent das leben
hundertzüngig/ tausendköpfig
schwer lag sie in ihren wehen
eh europa sie geboren
eh europa sie entbunden
dann verschwand das weib marjatta
überließ ihr kind dem schicksal



kommentar von gisbert jänicke


Wie bei der bereits früher eingesandten Probe ist auch
hier das vom Kalewala vorgegebene Versmaß aus
vierhebigen Trochäen (acht Silben pro Zeile) gut
durchgebildet. Die einzige Zeile, die den Rhythmus
unschön durchbricht, ist die vierte: „weltenweib/
beerengeschwängert“. Die metrische Abweichung ist
jedoch leicht zu beheben, wenn man statt dessen
„weltenweib/ von beeren schwanger“ schreiben würde.

Stilistisch nicht ganz in Bild passt der Ausdruck „in der
erde norden“ (Zeilen 10 und 13). Im Gegensatz zu früher,
als „norden“ noch soviel wie „unten“ bedeutete [im
Kalewala ist die Doppelbedeutung noch erhalten], ist
„Norden“ im Deutschen heute ausschließlich ein
Substantiv, das eine Himmelsrichtung bzw. einen in dieser
Richtung gelegenen Bereich bedeutet, kann also nicht
adjektivisch gebraucht werden. Auch hier ließe sich leicht
Abhilfe schaffen. Man könnte schreiben: „fand ihn in des
nordens erde“, „fand ihn nordwärts in der erde “ o.ä.

Interessant [und für mich als Kalewala-Übersetzer
bedenkenswert] ist die Umdeutung der Marjatta in diesem
Gedicht. Indem sie hier mit dem Schöpferweib [finn.
Ilmatar] des Kalewala gleichgesetzt wird, schließt sich ein
Kreis: Marjatta ist die Himmelsmutter, die Schöpferin, und
die Mutter des Menschensohns in einem. Das Gedicht
erhält dadurch eine starke synkretistische Komponente.