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european kalevala

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kalevala von:
carina nekolny


ach europa

ei europa vieler zungen
einst dem meer entschlüpft im mythos
haut aus eisen/ ei aus stählen
sampo hat dich reich gemacht vor zeiten
sampo mit dem bunten deckel
gut und geld und salz und stähle
ausgespuckt aus fremden schätzen
ausgeraubt aus fremden landen
jetzt machst du die grenzen dichter
jetzt baust du die mauern höher
ei europa vieler zungen
elchentleert/ eurovereintes
(sechs) goldne eier/ acht vielleicht
(da)raus die welt entsprang vor zeiten
(da)raus der himmel ward/ das meer
du das neunte/ du das zehnte
ehern einsames europa
rostig leeres weltreich einstens
sampo macht das herz dir kühler
reicher sampo stiehlt dein herz



kommentar von gisbert jänicke


Zum Hintergrund:
Das vorgegebene Muster in finnischer Sprache war für die
Aufgabe zu kurz, um ein adäquates Bild von Rhythmus
und Metrum des Kalewala zu vermitteln. Vergleicht man
jedoch die gesungene Probe mit dem geschriebenen Text
[wobei zu bemerken ist, dass im Finnischen die Betonung
eines Worts ungeachtet dessen Länge immer auf der
ersten Wortsilbe liegt, bei viersilbigen Wörtern ist ein
Nebenakzent auf der dritten Silbe möglich], tritt die
Komplexität des Epos zutage. Während sich der
gesungene Vortrag an das sog. Kalewala-Metrum
[vierfüßiger Trochäus] hält, folgt der Lesetext den
Betonungsregeln der Normalsprache. Die
rhythmisierenden Elemente des Kalewala sind
lautmalerische Klangfiguren wie Alliterationen [gleicher
Anfangslaut zweier oder mehrerer Wörter innerhalb einer
Zeile] und Assonanzen [vokalischer Gleichklang zweier
oder mehrerer Wörter, vorzüglich am Versende, wodurch
von Fall zu Fall ein Reimschema entsteht, das in formaler
Hinsicht aber nicht bindend ist] und zum anderen ein
strenges Schema von jeweils 8 Silben pro Vers. Ein drittes
wichtiges [inhaltliches] Element ist der Parallelismus, die
sinngemäße Wiederholung der Aussage eines Verses im
darauf folgenden Vers [Haupt- und Nebenvers].

Die als Beispiel mitgegebene deutsche Übersetzung
verzichtet auf die formalen Elemente des Originals, weil
diese sich beim Übersetzen [im Gegensatz zu original
gedichteten Texten] nachteilig auf die Aussage [den
Inhalt] auswirken können, behält aber den Parallelismus
bei, wobei sie Haupt- und Nebenvers jeweils zu einer
Doppelzeile zusammenzieht.

Zur Übung:
Der eingesandte Beitrag [20 statt der geforderten 10
Zeilen] versucht, sich an die metrische Struktur des
Kalewala, den vierfüßigen Trochäus [Hebung auf der
ersten Silbe] mit jeweils 8 Silben pro Zeile zu halten. In
den Zeilen 12—16 ist dies misslungen, was auf inhaltliche
Unsicherheit und dadurch bedingte falsche Wortwahl
zurückzuführen sein dürfte. Auch die Zeilen 17—20, wenn
auch metrisch korrekt, sind inhaltlich unklar.
Schrägstriche und Klammern im Text weisen desgleichen
darauf hin, dass die Autorin sich über den Inhalt noch
nicht sicher ist und vielleicht nach alternativen
Formulierungen sucht. Zeile 4 ist 2 Silben länger
[hyperkatalektisch], Zeile 20 eine Silbe kürzer
[katalektisch]. Katalexe [Unvollständigkeit des letzten
Versfußes] und Hyperkatalexe [Verlängerung des Verses
durch eine oder mehrere Silben] sind in längeren metrisch
gebundenen Texten [wie das Kalewala einer ist] durchaus
erlaubt und sogar erwünscht, denn sie durchbrechen die
leicht entstehende rhythmische Monotonie. Der Beitrag ist
reimlos, was ihm [im positiven Sinn] eine gewisse
Leichtigkeit verleiht.

Auch inhaltlich orientiert sich die Übung am Kalewala,
wobei mir die Eiermetaphorik nicht ganz gelungen
erscheint: aus den zerbrochenen Eiern entstehen im
Kalewala Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne, hier
aber ist Europa das einzige Ei, aber später ist von
mehreren Eiern die Rede [vielleicht wäre ein Ausdruck wie
„Land“ als Ausdruck für Europa besser gewesen, zumal
aufgrund der konsequenten Kleinschreibung das „ei“,
besonders in der ersten Zeile, leicht als Interjektion [ei!
ei!] verstanden werden kann. [Könnte man die
Eiersymbolik statt dessen auf die anfangs 6, dann immer
mehr werdenden Länder der EU anwenden?]. Dessen
ungeachtet finde ich die Zeilen 1—2 und 4—5 sehr schön.
Unklar formuliert dagegen scheinen mir Zeile 3 sowie der
Zusammenhang zwischen 4—5 und 6—8, zumal die
Wörter „ausgespuckt“ [7] und „ausgeraubt“ [8] nicht
erkennen lassen, was gemeint ist [man raubt ein Objekt
aus, aber das Objekt ist dadurch nicht ausgeraubt]. Die
Wiederholung von 1 in Zeile 11 ist gelungen, da sie das
Gedicht rhythmisch strukturiert; bei längeren epischen
Texten sind exakte oder auch nur sinngemäße
Wiederholungen [Rekapitulationen] durchaus angebracht.
Ab Zeile 12 ist der Inhalt dann, wie gesagt, unklar und
sollte noch einmal durchdacht werden [abgesehen davon,
dass Europa keineswegs „elchleer“ ist, allein in Finnland
werden jährlich 80 000 dieser Tiere erlegt].