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european kalevala

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kalevala von:
Herbert Danzer


Selten ist wol abgegangen, was nicht wol ist angefangen. ( Friedrich von Logau )

Friede dem Neandertaler!
Du warst zwar kein Höhlenmaler
und dein Blick drang nicht zu fernen
unerforschten Wandelsternen,
doch du warst mit dem zufrieden,
was dir die Natur beschieden.
Dann vertilgte still und leise
dich der Mensch, der weise, weise.
So stand schon am Anbeginn
Völkermorden ohne Sinn...











kommentar von gisbert jänicke


Zum Hintergrund:
Das vorgegebene Muster in finnischer Sprache war für die
Aufgabe zu kurz, um ein adäquates Bild von Rhythmus
und Metrum des Kalewala zu vermitteln. Vergleicht man
jedoch die gesungene Probe mit dem geschriebenen Text
[wobei zu bemerken ist, dass im Finnischen die Betonung
eines Worts ungeachtet dessen Länge immer auf der
ersten Wortsilbe liegt, bei viersilbigen Wörtern ist ein
Nebenakzent auf der dritten Silbe möglich], tritt die
Komplexität des Epos zutage. Während sich der
gesungene Vortrag an das sog. Kalewala-Metrum
[vierfüßiger Trochäus] hält, folgt der Lesetext den
Betonungsregeln der Normalsprache. Die
rhythmisierenden Elemente des Kalewala sind
lautmalerische Klangfiguren wie Alliterationen [gleicher
Anfangslaut zweier oder mehrerer Wörter innerhalb einer
Zeile] und Assonanzen [vokalischer Gleichklang zweier
oder mehrerer Wörter, vorzüglich am Versende, wodurch
von Fall zu Fall ein Reimschema entsteht, das in formaler
Hinsicht aber nicht bindend ist] und zum anderen ein
strenges Schema von jeweils 8 Silben pro Vers. Ein drittes
wichtiges [inhaltliches] Element ist der Parallelismus, die
sinngemäße Wiederholung der Aussage eines Verses im
darauf folgenden Vers [Haupt- und Nebenvers].

Die als Beispiel mitgegebene deutsche Übersetzung
verzichtet auf die formalen Elemente des Originals, weil
diese sich beim Übersetzen [im Gegensatz zu original
gedichteten Texten] nachteilig auf die Aussage [den
Inhalt] auswirken können, behält aber den Parallelismus
bei, wobei sie Haupt- und Nebenvers jeweils zu einer
Doppelzeile zusammenzieht.

Zur Übung:
Der eingesandte Beitrag versucht, wie mir scheint, die
metrische Struktur des Kalewala, den vierfüßigen
Trochäus [Hebung auf der ersten Silbe] mit jeweils 8
Silben pro Zeile nachzubilden, ohne sich auf dessen
lautmalerische Klangfiguren einzulassen. Abweichend von
der Vorlage zeigt der Beitrag ein strenges Reimschema
[weibliche, d.h. klingende Endreime, Schema a/b].
Problematisch sind die Zeilen 2 und 6 sowie 9 und 10.

In Zeile 2 [„Du warst zwar kein Höhlenmaler“] wird das von
mir als angestrebt vermutete trochäische Muster
gebrochen, indem die beiden ersten Versfüße hier zu
einem jambischen Metrum [Hebung auf der zweiten Silbe]
überwechseln. Dieser „Verstoß“ hätte durch eine andere
Wortwahl vermieden werden können [z.B. „Doch du warst
kein Höhlenmaler“]. Auch in Zeile 6 wäre der Trochäus
durch eine Wortumstellung zu erreichen gewesen [statt
„was dir die Natur beschieden“ vielleicht „was von der
Natur beschieden“. Dasselbe trifft für Zeile 9 zu [„So stand
schon am Anbeginn“], auch hier wäre durch andere
Wortwahl der Trochäus nachzubilden gewesen [z.B. „Also
stand von Anfang an schon“]. In der deutschen Metrik
müssen Wortakzent und metrischer Akzent [Hebung]
übereinstimmen.

Zeilen 9 und 10 sind katalektisch, verzichten also auf die
letzte Silbe in der Senkung, wodurch abweichend von allen
anderen Versen ein männliches, d.h. stumpfes Reimpaar
entsteht. Katalexe [Unvollständigkeit des letzten
Versfußes] und Hyperkatalexe [Verlängerung des Verses
durch eine oder mehrere Silben] sind in längeren metrisch
gebundenen Texten [wie das Kalewala einer ist] erlaubt
und sogar erwünscht, denn sie durchbrechen die leicht
entstehende rhythmische Monotonie. In einem kurzen
Text wirken sie eher störend, besonders wenn sie, wie die
Katalexen im vorliegenden Fall, auf die beiden letzten
Gedichtzeilen verteilt sind, was diesen ein im Verhältnis
zu den übrigen Zeilen stärkeres Gewicht verleiht. Mir wäre
lieber gewesen, auch die beiden letzten Zeilen wiesen 8
Silben auf und hielten sich an das trochäische Versmaß.

Eine kleine Unschönheit in der Wortwahl ist „der weise,
weise“ [Zeile 8]. Das erste Adjektiv könnte hier durch ein
anderes, auf die Überlegenheit oder Brutalität des Homo
sapiens hinweisendes Wort ersetzt werden [oder durch
z.B. „der ach so weise“]. Der Ausdruck „am
Anbeginn“ [Zeile 9] ist nicht ganz korrekt: man sagt „seit
Anbeginn“ oder „von Anbeginn [an]“.

Ansonsten ist der eingeschlagene Weg durchaus
lobenswert. Der Beitrag könnte den Baustein zu einem
längeren epischen Gedicht abgeben. Dabei müsste dann
genauer auf die Einhaltung des gewählten Metrums
geachtet werden: es müssen nicht unbedingt reine
Trochäen sein, auch daktylische Verse [— v v] mit
Trochäen [— v] gemischt machen sich in epischen Texten
gut, eine andere Möglichkeit wäre ein konsequent
durchgeführtes jambisches Metrum [was im Deutschen in
semantischer Hinsicht größere Möglichkeiten bietet], z.B.
anapästische Verse [v v —] mit Jamben [v —] gemischt. In
Bezug auf das Reimschema würde ich dann allerdings
einer komplizierteren [weniger monotonen] Reimstellung
den Vorzug geben, z.B. gekreuzten Reimen [a/b/a/b] oder
umschlingenden Reimen [a/b/b/a].