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european kalevala

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kalevala von:
Daniela Disterheft


Groß der Traum genannt Europa - schwer der Alp, der auf ihm liegt

Kaiser, Fürsten, Könige, all sie ersehnten große Macht. Stiften Ehen, schmieden
Ränke in ihrem Reiche sieh niemals die Nacht. Mit Feuer, oder Freundes Gunst,
Das Herrschen bleibt die größte Kunst. Wen kümmert da, wohl zu regieren, Völker
mit Vernunft zu führen. So schwer zu bauen ist der Friedern - wird nicht viel
mehr erreicht in Kriegen? Brenn dem Volke ein, wer gut ist, pügle ihm wohl ein,
wer schlecht. Wenn die Peitsche laut genug ist, geben sie dir immer Recht.
Sind Volkes Taten nicht geheuer, so press es in das Joch der Steuer. Diese
jährlich zu beschaffen, soll Tausende danieder raffen.So lange Zeiten sind sie
leise, Du, Herrscher wänst dich dich wahrhaft weise. Vor feister
Selbstgerechtigkeit, schläft dein Ahnen für ihr Leid! Hat das Volk kein Brot zu
Hause, nehm es doch Kuchen sich zur Jause! Soviel Hohn gar soviel Spott. weckt
auch aus dem tiefsten Trott. So toll, das Weib, das jenes sprach, man ihm den
Schädel niederbrach. In Frankreich weiß das Volk nun jetzt, wie es auf seine
Freiheit setzt. Endlos andre Staaten schaun, bis sie sich zu denken trauen, dass
sie nach dem Selben streben. Der Ruf nach einem feien Leben bringt fast jedes
Reich erbeben, Freihet wird ein Argument dass man bis heut als Vorwand nennt
zu rauben, was nicht Eigen ist, froh hoffend, dass das Volk vergisst, wofür es
einst gestorben ist. Dass man den Zweifel nicht erkennt, dafür so bunt die
Glotze rennt. Der Freiheit aller beste Wahl? 250. Kanal.



kommentar von gisbert jänicke


Zum Hintergrund:
Das vorgegebene Muster in finnischer Sprache war für die
Aufgabe zu kurz, um ein adäquates Bild von Rhythmus
und Metrum des Kalewala zu vermitteln. Vergleicht man
jedoch die gesungene Probe mit dem geschriebenen Text
[wobei zu bemerken ist, dass im Finnischen die Betonung
eines Worts ungeachtet dessen Länge immer auf der
ersten Wortsilbe liegt, bei viersilbigen Wörtern ist ein
Nebenakzent auf der dritten Silbe möglich], tritt die
Komplexität des Epos zutage. Während sich der
gesungene Vortrag an das sog. Kalewala-Metrum
[vierfüßiger Trochäus] hält, folgt der Lesetext den
Betonungsregeln der Normalsprache. Die
rhythmisierenden Elemente des Kalewala sind
lautmalerische Klangfiguren wie Alliterationen [gleicher
Anfangslaut zweier oder mehrerer Wörter innerhalb einer
Zeile] und Assonanzen [vokalischer Gleichklang zweier
oder mehrerer Wörter, vorzüglich am Versende, wodurch
von Fall zu Fall ein Reimschema entsteht, das in formaler
Hinsicht aber nicht bindend ist] und zum anderen ein
strenges Schema von jeweils 8 Silben pro Vers. Ein drittes
wichtiges [inhaltliches] Element ist der Parallelismus, die
sinngemäße Wiederholung der Aussage eines Verses im
darauf folgenden Vers [Haupt- und Nebenvers].

Die als Beispiel mitgegebene deutsche Übersetzung
verzichtet auf die formalen Elemente des Originals, weil
diese sich beim Übersetzen [im Gegensatz zu original
gedichteten Texten] nachteilig auf die Aussage [den
Inhalt] auswirken können, behält aber den Parallelismus
bei, wobei sie Haupt- und Nebenvers jeweils zu einer
Doppelzeile zusammenzieht.

Zur Übung:
Die eingesandte Probe ist schwierig zu analysieren, da sie
das vorgegebene Muster außer Acht lässt und auch den
Text nicht rhythmisch gliedert, sondern in einem Stück
fortlaufen lässt. Dennoch lässt sich ein gewisser metrisch
bedingter Rhythmus erkennen, der sich durch relativ
gleichlange Satzeinheiten [Haupt- und Nebensätze] zu
erkennen gibt. In der großen Mehrzahl sind diese
Einheiten achtsilbig, lehnen sich demnach an das sog.
Kalewala-Versmaß an. Eine Gliederung des Textes in mehr
oder weniger achtsilbige Verse wäre also durchaus
möglich. Ein Hindernis, das sich dabei in den Weg stellt,
ist der ständige Wechsel zwischen trochäischen und
jambischen Versfüßen. Der Text beginnt mit einem
sechsfüßigen, hyperkatalektischen Trochäus [„Kaiser, |
Fürsten, | Köni- ge“] und fährt fort mit einem achtsilbigen
Jambus [„all sie | ersehn- | ten gro- | ße Macht“]. Der
Wechsel von Trochäus zu Jambus kommt sogar innerhalb
einer Satzeinheit vor, z.B. [Trochäus:] „Freiheit | ist ein |
Argu- | ment ... || [Jambus:] das man | bis heut | als Vor-
| wand nennt“. Für ein episches Gedicht ist ein solcher
ständiger Versmaßwechsel insofern unzulässig, weil
dadurch in einem fort der Rhythmus und damit auch der
Lesefluss unterbrochen wird. Dagegen fallen die
ungleichlangen Verseinheiten weniger ins Gewicht, denn
Katalexe [Unvollständigkeit des letzten Versfußes] und
Hyperkatalexe [Verlängerung des Verses durch eine oder
mehrere Silben] sind oft angewandte Stilmittel, mittels
derer man bei längeren Texten einer rhythmischen
Monotonie vorbeugen kann.

Mein Vorschlag wäre eine Strukturierung des Textes nach
relativ gleichlangen Versen unter Berücksichtigung
katalektischer und hyperkatalektischer Möglichkeiten.
Dabei sollte ein einheitliches Versmaß gewählt werden;
dies muss nicht unbedingt ein trochäisches oder ein
jambisches sein, auch Trochäen [— v] vermischt mit
Daktylen [— v v] oder Jamben [v —] vermischt mit
Anapästen [v v —] eignen sich gut für längere epische
Texte. Auch andere Versmaße können in Frage kommen,
sofern sie konsequent durchgeführt werden. Die Zeilen
können auch, je nach gewählter Verslänge, durch sog.
Diärese [Einschnitt im Vers, an dem Wort- und
Versfußende zusammenfallen] rhythmisch gegliedert
werden. Den Versuch, Reime zu bilden [diese Tendenz
lässt sich in der Probe erkennen] würde ich vermeiden
[zumindest einfache Schemata wie a/b/a/b]; es sei denn,
man lässt sich auf ein mehr avanciertes, sich über
mehrere Zeilen hinziehendes Reimschema ein.

Zum Inhalt [der hier nicht zur Diskussion steht] ist nur
soviel zu sagen, dass der Text eigentlich nicht den Beginn
[d.h. die Entstehung] Europas schildert, sondern sich eher
mit dem Resultat befasst.