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european kalevala

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kalevala von:
Julia Rafael


Happy free Europe

Nur zur Freude, ohne Zwänge,
nie berufen eins zu werden,
trotzdem lustvoll eins zu sein,
fand Europa seine Wurzeln,
in den Wolken, in den Bäumen,
auf Gesteinen und Gewässern,
unverbraucht von hohlen Tönen,
raunten zärtlich es die Gräser,
dass Europa existiere
ohne Falschheit und Geklirre
(jedes Pendel kehrt in Bahnen,
an die Orte, die es halten,
beizeiten ohnehin zurück)








kommentar von gisbert jänicke


Zum Hintergrund:
Das vorgegebene Muster in finnischer Sprache war für die
Aufgabe zu kurz, um ein adäquates Bild von Rhythmus
und Metrum des Kalewala zu vermitteln. Vergleicht man
jedoch die gesungene Probe mit dem geschriebenen Text
[wobei zu bemerken ist, dass im Finnischen die Betonung
eines Worts ungeachtet dessen Länge immer auf der
ersten Wortsilbe liegt, bei viersilbigen Wörtern ist ein
Nebenakzent auf der dritten Silbe möglich], tritt die
Komplexität des Epos zutage. Während sich der
gesungene Vortrag an das sog. Kalewala-Metrum
[vierfüßiger Trochäus] hält, folgt der Lesetext den
Betonungsregeln der Normalsprache. Die
rhythmisierenden Elemente des Kalewala sind
lautmalerische Klangfiguren wie Alliterationen [gleicher
Anfangslaut zweier oder mehrerer Wörter innerhalb einer
Zeile] und Assonanzen [vokalischer Gleichklang zweier
oder mehrerer Wörter, vorzüglich am Versende, wodurch
von Fall zu Fall ein Reimschema entsteht, das in formaler
Hinsicht aber nicht bindend ist] und zum anderen ein
strenges Schema von jeweils 8 Silben pro Vers. Ein drittes
wichtiges [inhaltliches] Element ist der Parallelismus, die
sinngemäße Wiederholung der Aussage eines Verses im
darauf folgenden Vers [Haupt- und Nebenvers].

Die als Beispiel mitgegebene deutsche Übersetzung
verzichtet auf die formalen Elemente des Originals, weil
diese sich beim Übersetzen [im Gegensatz zu original
gedichteten Texten] nachteilig auf die Aussage [den
Inhalt] auswirken können, behält aber den Parallelismus
bei, wobei sie Haupt- und Nebenvers jeweils zu einer
Doppelzeile zusammenzieht.

Zur Übung:
Die Entstehung des Kontinents Europa aus sich selbst,
„nur zur Freude, ohne Zwänge“, ohne Schöpferkraft und
Waffengeklirr. Ein schönes Gedicht, was die zehn ersten
Zeilen betrifft, das sich außerdem an das vom Kalewala
vorgegebene achtsilbige trochäische Versmaß hält, d.h.
vier Zweisilber mit der Betonung jeweils auf der ersten
Silbe aufweist. Zeile 3 ist katalektisch, d.h. ihr fehlt eine
Silbe am Ende, was in rhythmischer Hinsicht durchaus
akzeptabel ist.

Bei zwei Zeilen bin ich mir mit der Betonung nicht ganz
sicher. Einmal in der Zeile 3 das Wort „trotzdem“. Man
kann es wohl auf der ersten wie auf der zweiten Silbe
betonen, in meinem Sprachgebrauch liegt die Betonung
auf der zweiten Silbe, weshalb bei mir der Rhythmus der
Zeile beim Lesen durcheinandergerät. Dem Problem wäre
abzuhelfen, wenn Sie „trotzdem“ durch „dennoch“
ersetzten, bei dem die Betonung klar auf der ersten Silbe
liegt. Dasselbe betrifft die letzte Zeile. Bei dem Wort
„beizeiten“ liegt die Betonung deutlich auf der zweiten
Silbe. Hier könnte statt dessen „früh genug“ oder etwas
ähnliches stehen, oder die beiden ersten Wörter könnten
umgestellt werden: „ohnehin beizeiten“, was dann ins
trochäische Maß passen würde. Doch hapert es hier immer
noch beim letzten Wort „zurück“, für das ein anders
betonter Ausdruck gefunden werden müsste.

Persönlich [ich bin aber kein Dichter, nur Übersetzer]
vermeide ich in Texten mythischen Inhalts, wie dieses
Gedicht zweifellos einer ist, Fremdwörter moderneren
Zuschnitts, wie hier in der neunten Zeile das Wort
„existiere“. Man könnte statt dessen „sei entstanden“
schreiben.
Die drei letzten, in Klammern gesetzten Zeilen erscheinen
mir wie aus dem Versuch zu einem anderen Gedicht zu
stammen, sie hängen thematisch mit den zehn ersten
Zeilen nicht zusammen. Ich würde sie streichen. Ganz
davon abgesehen zieht ein Pendel wohl keine Bahnen,
sondern es schwingt zwischen zwei festen punkten hin
und her. [Apropos Pendel: während ich diese Zeilen
schrieb, blieb das Pendel meiner Wanduhr plötzlich
stehen. Ob das was zu bedeuten hat?]